Und noch immer Agilität
Mario Buchinger, Vortragender des Seminars "Führen in agilen Organisationen" über Agilität. Noch immer ist der Begriff "Agilität" in aller Munde. Warum ist das so? Was sind die Gründe, dass dieser Begriff nach wie vor so viel Interesse weckt? Um eines schon an dieser Stelle zu beantworten: Die Welt verändert sich schneller und wird daher auch komplexer. Die alte Herangehensweise im Vorfeld alles genau zu planen, funktioniert daher heutzutage noch schlechter als in der Vergangenheit.
Der Inhalt des Begriffs Agilität ist nicht wirklich neu. Schon viele Jahrzehnte ist das dort beschriebene Vorgehen üblich, zumindest in bestimmten Branchen und Menschengruppen. Viele nennen es nicht so, aber letztlich ist der Begriff, den man verwendet oder eben auch nicht, zweitrangig. Viele Berater versuchen mittels "Agilität" alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen, das gleiche gilt für Scrum und ähnliches. Dabei bleiben die meisten im Methodischen, was zwar der leichteste weil offensichtlichste Teil ist, jedoch auch der Inhalt, der am wenigsten Relevanz mit sich bringt. Die entscheidenden Herausforderungen liegen in menschlichen Interaktionen und Strukturen.
Verbesserung in kleinen Schritten
Schon die Ägypter bauten ihre Pyramiden mit agile Methoden. Während die ersten Pyramiden so genannte Mastabas waren, lediglich flache Bauten mit leichtem Böschungswinkel, wurden im Laufe der Dynastien daraus komplexere Bauwerke wie etwa die Stufenpyramiden über die Knickpyramiden bis hin zu den den meisten bekannten idealistischen Pyramiden ganz ohne Stufen und Knicke. Auch die spätere Bautechnik hat sich stets weiterentwickelt.
Künstlerische Menschen, wie Musiker oder Maler erschaffen ihre Werke meistens ohne genau zu wissen, was exakt das Ergebnis sein wird. Ich kenne dies aus meiner musikalischen Arbeit früher als Bandmitglied und heute bei der Produktion meiner eigenen Alben. Ein musikalisches Werk ist meist etwas, was aus Intuition gepaart mit musikalischer Expertise entsteht und bei dem man am Anfang nicht genau sagen kann, was am Ende rauskommt. Man geht in kleinen Veränderungs- und Verbesserungsschritten vor, um Stück für Stück ein neues Werk zu erschaffen.
Was aber immer klar ist, ist eine Erwartungshaltung, also ein Verständnis darüber, was im Grundsatz entstehen soll und weshalb. Im Fall von künstlerischen Werken steht dahinter oft ein Wille, Emotionen auf künstlerische Art und Weise auszudrücken und gleichzeitig dabei einem gewissen qualitativen Anspruch zu genügen. Ich habe bei meiner musikalischen Arbeit neben meinem musikalischen Stil und dem Wunsch mich auszudrücken, stets auch die klangliche Qualität im Sinn, damit das Hören der Musik für die HörerInnen ein besonderes Erlebnis ist.
Bei den Ägyptern war es ähnlich. Der Zweck der Pyramiden waren Grabstätten für die Pharaonen, die für die Ewigkeit bestimmt waren. Eine Grundform war gegeben, das tatsächliche Ergebnis veränderte sich stetig.
Das Besondere an Agilität ist nicht etwa, dass man jederzeit alles liefern und machen kann, was viele irrtümlicherweise annehmen.
Agilität zeichnet sich durch zwei wesentliche Faktoren aus:
- Es existiert ein gemeinsames Verständnis des Ist- und Zielzustands. Allen beteiligten Personen ist klar, wo man aktuell steht und was weshalb erreicht werden soll. Ein Zielzustand darf dabei aber nicht mit einem Ergebnis oder einem Satz von Messgrößen verwechselt werden. Es geht vielmehr darum zu beschreiben, was konkret erreicht werden soll. Die Frage nach dem "Wie?" wird an dieser Stelle bewusst ignoriert.
- Man nähert sich dem angestrebten Zielzustand mit kleinen Schritten. Dabei sind die Schritte stets so klein wie möglich und so groß wie nötig. Das "Wie?" entsteht also auf dem Weg zum Zielzustand.
Dieser Ansatz widerspricht in vielen Bereichen dem klassischen Projektmanagement und den typischen Führungsroutinen. Wir Menschen sind aus archaischen Energiespargründen darauf getrimmt, dass wir gerne wissen wollen, was uns erwartet. Weil das so menschlich ist, boomen auch so viele unseriöse Angebote von Wahrsagern oder Astrologen - aber das ist eine andere Geschichte. Wie im privaten Leben, muss man auch im geschäftlichen Umfeld akzeptieren, dass ein Weg nicht genau bekannt ist und auch nie bekannt sein wird.
Ein berühmtes Sprichwort sagt: "Planung ersetzt Zufall durch Irrtum." Übersetzt heißt das, dass man einen Weg noch so sehr planen kann, man wird letztlich vieles komplett anders machen. Denn auf dem Weg begegnet man neuen Dingen, die man vorher nicht wissen konnte. Und hier kommen nun die kleinen Schritte zum Tragen.
Geht man in kleinen Schritten vor, hat man zwei ganz entscheidende Vorteile:
- Stellt man fest, dass etwas nicht funktioniert, kann dies sehr schnell bemerkt werden und eine Korrektur ist frühzeitig möglich. Geht man nicht in kleinen Schritten vor, sondern möchte alles in wenigen großen Schritten vollziehen, ist die Gefahr sehr real, dass man erst sehr spät merkt, dass ein Weg in eine Sackgasse führt.
- Erfolge sind schnell sichtbar, was die beteiligten Personen motiviert. Schnelle Erfolge sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Teams und auch aus diesen kann man lernen.
Und damit die wesentlichen Dinge von Agilität beschrieben. Wenn Sie nun das Gefühl haben, das hätten Sie schon mal irgendwo gehört, so ist dies sehr wahrscheinlich richtig. Die Philosophie des Kaizen, aus der irrtümlicherweise der Begriff "Lean" abgeleitet wurde, beinhaltet die Wege der kleinen Schritte und das schon seit dem 16. Jahrhundert.
Darüber hinaus ist hier auch der Aspekt einer positiven Fehlerkultur inkludiert, der auch im Agilitätsumfeld entscheidend ist. Um aus den kleinen Schritten zu lernen, müssen Probleme und Fehler auch klar als solche erkannt und formuliert werden. Und auch der Begriff PDCA (Plan, Do, Check, Act), oder auch als "Deming-Zyklus" bezeichnet, formuliert dieses schrittweise Vorgehen. Wendet man den PDCA-Zyklus in mehrfacher, aufeinanderfolgender Form an, und nicht nur einfach, ist man automatisch im agilen Vorgehen. Bei Scrum werden diese PDCA-Zyklen auch gerne als "Sprints" bezeichnet.
Fazit
Agilität ist damit nichts anderes als die Fähigkeit, sich intrinsisch weiterzuentwickeln. Dabei darf man dies aber nicht mit Flexibilität oder gar Feuerlöschen gleichsetzen. Während Agilität das bestehende Umfeld in kleinen Schritten zielgerichtet weiterentwickelt und verändert, bezeichnet Flexibilität ein strukturiertes Umfeld oder System, in dem gewisse Schwankungen möglich sind. Feuerlöschen ist dagegen das, was man stets vermeiden sollte, nämlich die rein reaktiven Maßnahmen bei völlig unerwarteten Abweichungen. Dies kann und wird immer passieren. Durch kontinuierliche Verbesserungsarbeit soll das Feuerlöschen mit der Zeit immer weiter reduziert werden.
Restart Thinking!
#WegezurVeraenderungsfaehigkeit
Über den Autor:
Dr. Mario Buchinger ist Querdenker, Visionär, Kaizen-Trainer und Lean-Experte. Er war viele Jahre bei Daimler und Bosch aktiv. Als interner Berater begleitete er die Organisation hin zu einer kontinuierlichen Verbesserungskultur in allen Bereichen und auf allen Führungsebenen und setzte weltweit Verbesserungsaktivitäten an verschiedenen Produktionsstandorten um. Er ist ausgebildeter Lean-Manufacturing-Consultant und wurde unter anderem durch ehemalige Toyota- Manager in Deutschland und Japan zum Kaizen-Trainer und Lean Experten ausgebildet.
Veranstaltungstipp:
Führen in agilen Organisationen 10. / 11. März 2020