Europa als verlässlicher Partner für vertrauenswürdige KI in sensiblen Bereichen: Natalie Ségur-Cabanac im Gespräch
Business Circle: Sehr geehrte Frau Dr. Ségur-Cabanac, Sie haben in unserem letzten Interview betont, dass „eine konsequente und ehrliche Regulierung eine große Chance“ ist – gerade auch für Europa. Sehen Sie die EU dafür gut aufgestellt?
Natalie Ségur-Cabanac: Europa ist grundsätzlich gut aufgestellt: Mit Instrumenten wie der Corporate Sustainability Due Diligence Directive zeigt die EU, dass sie verbindliche und glaubwürdige Rahmenbedingungen schaffen kann. Ihre Marktmacht verleiht ihr zudem Gewicht, globale Standards zu setzen. Auch mit dem Digital Services Act, Digital Markets Act, dem AI Act oder dem Data Act hat die EU in kurzer Zeit ein umfassendes Regelwerk geschaffen, das weltweit Beachtung findet. Die Herausforderung liegt weniger im Ob, sondern im Wie: Die Vielzahl komplexer Vorgaben muss für Unternehmen handhabbar und praxisnah umgesetzt werden. Entscheidend wird sein, die Prozesse zu beschleunigen und kohärente Leitlinien bereitzustellen. Gelingt das, kann Europa Regulierung als Innovationsmotor nutzen und seine Werte von Transparenz, Fairness und Grundrechtsschutz auch global sichtbar machen.
BC: Wie lässt sich der Spagat zwischen hoher Regulierungstiefe und internationaler Wettbewerbsfähigkeit bewältigen – insbesondere im datengetriebenen Telekommunikations- und Infrastrukturbereich?
Ségur-Cabanac: Angesichts geopolitischer Spannungen und der Klimakrise bleibt Europa keine andere Wahl, als sich intensiv mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen und tragfähige Lösungen zu entwickeln. Die größte Aufgabe liegt darin, den erreichten Wohlstand zu sichern oder sogar auszubauen – und das bei gleichzeitiger Bewältigung von Klimawandel, sozialer Ungleichheit sowie den ethischen Fragen rund um Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Der Green Deal ist dafür ein zentrales Instrument: Er verbindet ökologische, soziale und gesellschaftliche Ziele in einem kohärenten Rahmen. Dieses umfassende Regelwerk verdient tatsächlich den Anspruch, Europa in eine Vorreiterrolle zu bringen.
Europa verfügt über eine hohe Regulierungsdichte. Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind zentrale Treiber neuer Regelwerke, die letztlich auch die Wettbewerbsfähigkeit Europas sichern sollen. Für Unternehmen wird es jedoch zunehmend herausfordernd, die Fülle an Vorschriften zu verstehen und umzusetzen. Besonders anspruchsvoll sind die komplexen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Vorgaben. Es braucht daher mehr Verständlichkeit, praktikable Leitlinien und eine kluge Priorisierung, damit Regulierung als Standortvorteil genutzt werden kann – und nicht zur Innovationsbremse wird.
BC: Welche Auswirkungen hätte es, wenn die politische und finanzielle Unterstützung für EU-weite Regulierungen in einzelnen Mitgliedstaaten abnimmt?
Ségur-Cabanac: Ein Rückgang der politischen oder finanziellen Unterstützung einzelner Mitgliedstaaten würde die Einheitlichkeit und Glaubwürdigkeit der EU-Regulierung erheblich unter Druck setzen. Unterschiedliche nationale Ansätze könnten zu einem Flickenteppich führen, der gerade für grenzüberschreitend tätige Unternehmen zusätzlichen Aufwand und Rechtsunsicherheit bedeutet. Gleichzeitig würde Europa an internationalem Gewicht verlieren – denn seine Stärke liegt darin, mit einem einheitlichen Markt Standards zu setzen, die global wirken. Umso wichtiger ist es, dass die EU ihre Mitgliedstaaten von den langfristigen Vorteilen gemeinsamer Regelwerke überzeugt und Wege findet, die Lasten fair zu verteilen.
BC: Die EU sieht sich als Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit – auch ökonomisch. Ist das „europäische Modell“ mit seinen ethischen, sozialen und ökologischen Ansprüchen zukunftsfähig im globalen Vergleich?
Ségur-Cabanac: Die unterschiedlichen Regulierungsansätze spiegeln auch verschiedene Werteordnungen wider. Während die USA stark auf Markt- und Innovationsdynamik setzen und China KI strategisch-staatlich vorantreibt, orientiert sich Europa am Schutz von Grundrechten und am ethischen Einsatz von Technologien. Kurzfristig mag das als Wettbewerbsnachteil erscheinen. Langfristig kann sich darin aber eine große Chance verbergen: Europa positioniert sich als verlässlicher Partner für vertrauenswürdige KI. Gerade in sensiblen Bereichen wie Gesundheit, Mobilität oder kritischer Infrastruktur ist dieser Vertrauensbonus ein entscheidender Faktor für Akzeptanz und globale Kooperation.
Europäischen Grundkonsens wahren und Unterschiede im Detail als Stärke nutzen
BC: Inwieweit erschwert die politische Uneinigkeit innerhalb der EU die Umsetzung konsistenter, nachhaltiger Regeln? Und inwieweit ist das überhaupt wünschenswert?
Ségur-Cabanac: Politische Uneinigkeit ist auf den ersten Blick ein Hemmschuh für rasche Entscheidungen. Gleichzeitig ist sie Ausdruck der Vielfalt innerhalb der EU – und zwingt dazu, Interessen auszugleichen und tragfähige Kompromisse zu suchen. Das führt zwar oft zu langsameren Prozessen, erhöht aber die Legitimität und Akzeptanz der Regelungen. Nachhaltige Regulierung braucht beides: die Fähigkeit, handlungsfähig zu bleiben, und die Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Die Kunst wird sein, bei zentralen Zukunftsthemen wie Klima, Daten oder KI einen europäischen Grundkonsens zu wahren und Unterschiede im Detail als Stärke zu nutzen.
BC: Die EU geht mit dem AI Act regulatorisch voran, während die USA auf marktorientierte Standards setzen und Länder wie China oder Indien eigene Wege verfolgen. Wie bewerten Sie diese unterschiedlichen Zugänge zu Künstlicher Intelligenz – und welche Chancen oder Risiken ergeben sich daraus für Europa im globalen Wettbewerb?
Ségur-Cabanac: Die unterschiedlichen Regulierungsansätze spiegeln auch verschiedene Werteordnungen wider. Während die USA stark auf Markt- und Innovationsdynamik setzen und China KI strategisch-staatlich vorantreibt, orientiert sich Europa am Schutz von Grundrechten und am ethischen Einsatz von Technologien. Kurzfristig mag das als Wettbewerbsnachteil erscheinen. Langfristig kann sich darin aber eine große Chance verbergen: Europa positioniert sich als verlässlicher Partner für vertrauenswürdige KI. Gerade in sensiblen Bereichen wie Gesundheit, Mobilität oder kritischer Infrastruktur ist dieser Vertrauensbonus ein entscheidender Faktor für Akzeptanz und globale Kooperation.
BC: Sie haben viel Erfahrung mit Compliance in Konzernen – aber auch mit der politischen Regulierung über die ISPA. Wenn Sie ein „Department of Government Efficiency“ in Europa mitgestalten könnten: Welche Prioritäten würden Sie setzen, und wer müsste unbedingt mit an den Tisch?
Ségur-Cabanac: Ein solches Department müsste drei Schwerpunkte setzen: erstens die Vereinfachung und bessere Verständlichkeit bestehender Regelwerke, zweitens die digitale Unterstützung von Compliance-Prozessen und drittens die Weiterentwicklung der europäischen Gesetzgebungsprozesse selbst. Gerade angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen brauchen wir schlankere und schnellere Verfahren, die Innovationen nicht ausbremsen, sondern begleiten. An den Tisch gehören nicht nur Jurist:innen und Politiker:innen, sondern auch Vertreter:innen aus Wirtschaft, Technologie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Nur im Zusammenspiel dieser Perspektiven lässt sich ein Regulierungsrahmen schaffen, der effizient ist, mit der technologischen Entwicklung Schritt hält – und zugleich die europäische Wertebasis stärkt.
BC: Sehr geehrte Frau Dr. Ségur-Cabanac, wir danken Ihnen für dieses informative und inspirierende Gespräch und freuen uns, Sie bald wieder bei uns zu begrüßen!