Die Balance zwischen Klimazielen, Versorgungssicherheit und Ökonomie: Interview mit Leo Lehr
Business Circle: Sehr geehrter Herr Mag. Lehr, eingangs etwas Persönliches: Sie sind ist stellvertretender Leiter der Abteilung Volkswirtschaft bei der E-Control. Möchten Sie uns kurz beschreiben, wie Sie Ihr Weg dorthin geführt hat?
Leo Lehr: Bereits während meiner beiden Studien der Volkswirtschaft und Rechtswissenschaften haben mich die Energiethemen besonders interessiert. Um die beiden Aspekte zu verbinden, war ich später in Bereichen tätig, die ökonomische Analyse und Rechtspraxis kombinieren – zunächst in der kartellrechtlichen Beratung. Mein Interesse an quantitativer Marktanalyse und Marktgestaltung führte mich schließlich zur Regulierungsbehörde E-Control, wo ich meine Tätigkeit in der Marktaufsicht der Abteilung Volkswirtschaft begann und später die stellvertretende Abteilungsleitung übernahm.
BC: Im Energiesystem treffen politische Ziele – wie Versorgungssicherheit vs. Klimaneutralität – aufeinander. Wie gelingt es, zwischen ökonomischer Rationalität und energiepolitischem Wunschdenken zu unterscheiden?
Lehr: Energiepolitik bewegt sich naturgemäß im Spannungsfeld unterschiedlicher Ziele und Zielkonflikte – man denke an das klassische Dreieck aus Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Oft begegnet man hier tatsächlich auch einem gewissen Wunschdenken, wenn ambitionierte Ziele ohne Plausibilitätsprüfung hinsichtlich Infrastruktur, Finanzierung oder Zeitrahmen formuliert werden. Dem lässt sich nur mit konsequenter Fakten- und Datenorientierung begegnen. Regulierung braucht klare Metriken (Kosten für Verbraucher, Systemverfügbarkeit, Emissionspfade) und Szenarien, die diese Zielkonflikte aufzeigen und sichtbar machen und so möglichst nachvollziehbare politische Entscheidungen ermöglichen.
BC: Der Strommarkt wurde für eine Welt mit fossilen und atomaren Großkraftwerken entworfen, nicht für fluktuierende Erneuerbare. Wie weit ist Europa mit der Anpassung des Marktdesigns gekommen?
Lehr: In den letzten Jahren hat natürlich die Energiekrise die wesentlichen Reformschritte diktiert, und hier musste vor allem europäisch abgestimmt reagiert werden. Die EU-Strommarktreform (Electricity Market Design Reform) wurde politisch vereinbart und trat in Etappen in Kraft: Mitgliedstaaten mussten Regelungen transponieren und Umsetzungsfristen laufen bzw sind bereits abgelaufen. Damit sollen bestimmte Instrumente wie langfristige Vertragstools, stärkere Integration von Kapazitäts- und Flexibilitätsanforderungen sowie überarbeitete Schutzbestimmungen für Verbraucher eingeführt werden — aber die praktische Umsetzung auf nationaler Ebene ist noch in Arbeit. Eine gute Ausgestaltung dieser Gesetzeswerke darf nicht unterschätzt werden, da diese in Zukunft wesentliche Standortfaktoren für Österreich darstellen.
BC: Erneuerbare Energien könnten ausreichend sein, aber das System hinkt bei Speichertechnologien hinterher. Warum ist die Speicherfrage trotz unzähliger Förderprogramme noch ungelöst?
Lehr: Bisherige Fördersysteme konzentrierten sich weitgehend auf die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen. Inzwischen zeigt sich jedoch, dass ergänzend Speichermöglichkeiten – sowohl kurzfristige als auch saisonale – bereits heute dringend notwendig sind, um die volatile Einspeisung zu glätten. Künftige Förderprogramme sollten dies stärker berücksichtigen. Darüber hinaus braucht es klare regulatorische Vorgaben zu Netzanschluss und Netzentgelten, um einen breiten Ausbau von Speichern zu ermöglichen.
BC: Daran anschließend: Es wird viel von „grünem Wasserstoff“ als Speicherlösung gesprochen. Wie weit ist das realistisch – und ab wann wird es volkswirtschaftlich fragwürdig? Und wie hat sich das geopolitische Risikobild seit 2022 verändert?
Lehr: Realistisch ist: Grüner Wasserstoff hat großes Potenzial in industriellen Sektoren, die sich schwer direkt elektrifizieren lassen und für die Stromerzeugung in Zeiten mit wenig erneuerbarer Erzeugung. Gleichzeitig ist er heute noch relativ teuer und volkswirtschaftlich wird H2 fragwürdig, wenn er dort eingesetzt wird, wo direkte Elektrifizierung deutlich günstiger und effizienter ist. In den letzten Jahren wurden viele H2-Projekte auch wieder zurückgefahren, da Batterien als Speicherlösung kostengünstiger wurden.
Seit 2022 hat sich das geopolitische Risikobild deutlich verändert: die Abhängigkeit von russischen Pipeline-importen wurde als strategische Schwachstelle schmerzhaft sichtbar und Staaten versuchen Lieferketten umso stärker zu diversifizieren. Da Europa künftig wohl auch Wasserstoff importieren wird, sind robuste Handelsrouten und ein möglichst liquider Markt entscheidend.
Frühwarnindikatoren und Verbrauchscontrolling
BC: Welche Daten oder Frühwarnindikatoren nutzen Sie E-Control, um strukturelle Risiken in der Versorgungssicherheit frühzeitig zu erkennen?
Lehr: Die E-Control betreibt kontinuierliches Monitoring und Szenariorechnungen zur Abschätzung der Versorgungssicherheit, bei Strom als auch bei Gas. Wichtige Indikatoren sind verfügbare Erzeugungsleistung, Netzsituation und Engpassprognosen, Speicherfüllstände (Gas/Strom), Import-/Exportkapazitäten sowie Marktdaten. Wir erheben auch individuelle Verbrauchsdaten, etwa von Großverbrauchern in Österreich. Zusätzlich werden Szenarien (z. B. kalte Winter, Ausfall von Großlieferungen) kalkuliert, um Unterdeckungswahrscheinlichkeiten in unterschiedlichen Zeithorizonten zu quantifizieren.
BC: Abschließend: Wenn Sie auf die kommenden fünf Jahre blicken: Wo liegt der größte Hebel – beim Staat, beim Markt oder bei uns als Verbrauchern?
Lehr: Alle drei spielen je eine entscheidende, aber unterschiedliche Rolle. Der Staat schafft regulatorische Rahmenbedingungen. Der Markt muss jedoch Investitionen und effiziente Allokation sicherstellen. Verbraucher bringen Verhaltensänderungen und Akzeptanz (Nachfragesteuerung, Energieeffizienz). Wenn ich einen einzelnen „größten Hebel“ nennen muss dann ist es kurzfristig der Staat, da gerade jetzt wichtige neue Gesetzesvorhaben, und darauf basierende regulatorische Entscheidungen, anstehen. Diese beeinflussen wiederum Investitionen und Ausbau im Energiesystem maßgeblich. Langfristig funktioniert die Transformation aber nur, wenn Marktmechanismen und Verbraucherverhalten mitziehen.
BC: Wir danken Ihnen für dieses spannende Gespräch und die klaren Einblicke und freuen uns, beim Sustainability Summit noch mehr von Ihnen zu hören!
(c) Fotos: E-Control, Anna Rauchenberger, Wilke, Business Circle

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